Welche Bedeutung hat die Gen-Forschung für das ungeborene Kind Marfan-betroffener Eltern und für erwachsene Marfan-Betroffene selbst?
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Ganz allgemein lässt sich sagen, dass die Genetik heute eine große Rolle in der medizinischen Grundlagenforschung und im Bereich der Diagnostik spielt, und dass nach und nach die hier gewonnenen Erkenntnisse auch in die Behandlung der Patienten Eingang finden. Beim Marfan-Syndrom und anderen Erkrankungen, die durch Veränderungen der Bindegewebskomponente Fibrillin 1 zu Stande kommen, sind wir von einer ursächlichen Behandlung (vor- oder nachgeburtlich) noch entfernt, aber wir wissen jetzt, dass die Aufdeckung der zu Grunde liegenden Mutationen im Fibrillin 1-Gen dazu beitragen kann, diagnostische Unsicherheiten zu beseitigen, eine genauere Prognose im Einzelfall zu stellen und damit Art und Umfang der jeweils erforderlichen Vorsorgemaßnahmen mit zu bestimmen. Zwei kürzlich erschienene Forschungsarbeiten sollen dies illustrieren.
Die Arbeitsgruppe von Professor Anne de Paepe (Gent, Belgien) untersuchte 171 Patienten mit Verdacht auf Marfan-Syndrom. Bei 94 Patienten waren die international akzeptierten Kriterien ("Genter Nosologie") für die Diagnosestellung eines Marfan-Syndroms erfüllt. Bei 66% dieser Patienten wurde eine Mutation im Fibrillin1-Gen gefunden. In der Patientengruppe, die die Kriterien eigentlich nicht erfüllten, fand sich eine Fibrillin 1-Mutation aber immerhin noch in 12% der Patienten. Unter den Patienten mit gesichertem Marfan-Syndrom war das Symptom Linsenschlottern wesentlich häufiger, wenn zugleich eine Fibrillin 1-Mutation gefunden worden war. Die Autoren schließen hieraus, dass eine Mutationssuche hilfreich ist, um Patienten mit hohem Risiko für ein Marfan-Syndrom zu identifizieren, um diese dann entsprechenden Vorsorgemaßnahmen zuzuführen. Dies gilt besonders für Familien mit mehreren in unterschiedlichem Maß Betroffenen, insbesondere Kindern. Die Befunde meiner eigenen Arbeitsgruppe in Hannover können diese Aussagen voll bestätigen (Loeys und Mitarb., Arch Intern Med 2001, 12:2447-2454; Rommel und Mitarb., zum Druck eingereicht).
Die Arbeitsgruppe von Professor Uta Francke (Stanford, USA) stellte fest, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Typ der Fibrillin 1-Mutation und dem Ausprägungsgrad eines Marfan-Syndroms gibt – Genetiker sprechen hier von einer "Genotyp-Phänotyp-Korrelation". Es gibt zwei wesentliche Mutationsklassen: bei der einen wird als Folge der Genmutation im Fibrillin-Protein selbst ein Aminosäure-Baustein durch einen anderen ersetzt ("Austausch-Mutation"), bei der anderen kommt es zu einem vorzeitigen Ende der Synthese von Fibrillin 1, also einem verkürzten Protein ("Stopp-Mutation"). Die Forschergruppe konnte zeigen, dass Patienten mit der Stopp-Mutation verglichen mit solchen mit Austausch-Mutation häufiger Gelenkprobleme aber seltener eine Beteiligung der Augen aufwiesen. Auch diese Erkenntnisse dürften für Vorsorgemaßnahmen von Bedeutung sein (Schrijver und Mitarb. Am J Hum Genet 2002: Juni-Ausgabe).
Es setzt sich also mehr und mehr die Erkenntnis durch, dass eine genetische Untersuchung zur Abklärung unklarer Erkrankungsfälle beitragen und dass ein solches Wissen sinnvoll in der Behandlung der Patienten eingesetzt werden kann.
/Prof. Dr. med. Jörg Schmidtke, Hannover